Verband Schweizer Filmklubs und nicht-gewinnorientierter Kinos
Association suisse des ciné-clubs et des cinémas à but non lucratif
Associazione svizzera dei circoli del cinema e dei cinema senza scopo di lucro
Swiss Association of Film Societies and Non Profit Cinemas

Fundus für Programmverantwortliche: Forum des jungen Films, Berlinale 200521.02.2005

Die Unterschiede sind kleiner geworden. Das Kino ist geprägt von der Norm der Erbauer und der Investoren. Und die Berliner Filmfestspiele, seit fünf Jahren im Neubauviertel rund um den Potsdamer Platz untergebracht, verdeutlichen dies wenngleich ungewollt. Keine Frage: Zumindest die architektonischen Akzente rund um den Platz zelebrieren in gewagten Aussenformen und der Fassadengestaltung das Nebeneinander von Gegensätzen in Material und Aussage. Tritt man aber ein, so ist es schnell vorbei mit der Vielfalt. Ob im Unter- oder im Obergeschoss, hinter welcher Fassade auch immer, überall sehen sich die Kinos zum Verwechseln ähnlich. Vorbei sind die Zeiten, in denen die Innenarchitektur eines "Zoo Palasts" oder eines "Delphi Filmpalastes" das Publikum schon beim Eintritt auf unterschiedliche, ja gegensätzliche filmische Kost einstimmte. Heute bietet vielleicht noch die Farbe der Sessel Abwechslung. Und wenns dunkel wird im Normsaal hofft das Publikum auf einen Film, der sich abhebt vom bisher Gesehenen. Kleiner geworden sind die Unterschiede auch beim kinematografischen Menü der Berlinale. Ob Wettbewerb oder Internationales Forum des jungen Films oder Panorama - eine zunehmende Zahl an Filmen könnte sowohl in der einen wie auch der anderen Programmsektion des Filmfestivals laufen. Sicher hat sich das Auswahlprofil des Berlinale Wettbewerbs - wie auch der Wettbewerbe anderer grosser Festivals - in Richtung Studiofilm geöffnet, was sich an der Einladung an Paradise Now von Hany Abu-Assad über palästinensische Selbstmordattentäter zeigt. Gleichzeitig sind die Produktionsfirmen, Financiers und Investoren bei formal wagemutigen Filmen in den letzten Jahren vorsichtiger geworden. Formal Mutiges mit geringem Auswertungspotential ist seltener geworden. Beides zusammen führte dazu, dass jede der drei Hauptprogrammsektionen der Berlinale an Profil verloren haben. An Gewicht gewonnen haben dafür die einzelnen Filme, die je nach Publikumsinteresse da oder dort Begeisterung auszulösen vermögen - egal in welcher Programmsektion sie vorgestellt werden. Im Gegensatz zu den strategisch denkenden Filmleuten, die ihre Filme auf dem internationalen Festivalparkett möglichst optimal - was immer dies auch heissen mag - platzieren wollen, kümmert es das Publikum oder auch Kinoprogrammverantwortliche wenig, in welchen Sektionen beispielsweise die zwei Schweizer Filme Katzenball von Veronika Minder und Die Vogelpredigt oder Das Schreien der Mönche von Clemens Klopfenstein laufen. Erfolgreich waren beide: "Katzenball" erhielt den Teddy-Preis für den besten Dokumentarfilm mit schwul-lesbischem Kontext im Panoarama-Programm. Und Clemens Klopfensteins Film verführte das Publikum des Forums des jungen Films zu herzhaftem Lachen und beflügelte Ralf Schenk in der "Berliner Zeitung" zur Bemerkung: "Die Vogelpredigt ist die intelligenteste, pointierteste Schweizer Produktion seit langem". Obwohl der Spielraum des Internationalen Forums des jungen Films enger und der Programmumfang wohl aus finanziellen Gründen sichtbar kleiner geworden ist, bleiben das Forum - und zum Teil auch das Panorama - der Fundus der Berlinale für Programmverantwortliche von nicht-gewinnorientierten Kinos und von Filmklubs. Überzeugend in der formalen Eigenwilligkeit ist Krišana (Glut) des in Berlin geborenen Fred Kelemen, dessen früherer Film "Faust" 1997 im Forum für ebenso viel Aufsehen sorgte. Nur vordergründig erzählt die deutsch-lettische Koproduktion eine nacherzählbare Geschichte: Nachts begegnet der lettische Angestellte Matiss auf einer Brücke einer Frau. Wenige Atemzüge später ist sie verschwunden. Matiss, überzeugt davon, dass sie sich das Leben genommen hat, wird von Schuldgefühlen verfolgt, da er kurz zuvor nichts unternommen hat. Er ruft die Polzei, die nichts findet, sucht tage- und nächtelang nach der Frau und ihrer Identität und glaubt schliesslich, sie zu kennen. Das Bild, das Matiss von ihr hat, ist aber nichts mehr als die Spiegelung seiner Zweifel und seiner Sehnsucht. "Das Drama, das sich immer im Innern abspielt - in der Aussenwelt manifestiert es sich nur -, habe ich in den Kopf, in die Imagination verlagert", sagt Fred Kelemen: "Ich empfinde schon längere Zeit Unbehagen an der Vulgarität auserzählter Geschichten. Das wirkliche Drama findet in unserem Geist statt. Es ist wie alles eine Illusion, und wie jede Illusion eine Wirklichkeit." Die in den düsteren wie den blendend hellen Momenten beklemmenden Bilder in Kelemens Film (Kamera: Baiba Lagždina) sind nicht Werkzeug der Erzählung, sondern Teil der Erzählung. Sie sind elliptisch und mehrdeutig und assoziieren eine Geschichte, die jede und jeder anders weitererzählen würde. Ein falsches Bild hinterlässt der Versuch, die Filmgeschichte nachzuerzählen, auch beim zweiten Spielfilm des polnischen Nachwuchstalents Małgosia Szumowska ("Happy Man"). Der vom Panorama vorgestellte Ono, was "Es" heisst, wenngleich der Film international unter dem Titel "Stranger" läuft, erzählt von der Studentin Eva, die von ihrem früheren Freund schwanger ist, einem unterbezahlten Job nachgeht und ihr Kind abtreiben will. Evas Entdeckung, dass das Ungeborene alles hören kann, verändert ihre Weltsicht und lässt in ihr den Wunsch wachsen, das Kind zu gebären. So klischeehaft und katholisch die Geschichte in der Zusammenfassung auch daherkommt, so vielschichtig ist die impressionistische visuelle Umsetzung. In Bild und Montage, die durchaus an grosse polnische Filme erinnern, zeigt uns Małgosia Szumowska die Welt aus der Sicht der Schwangeren. Lebensnah und mitunter mitreissend sind Filme wohl dann, wenn sie nicht makellos perfekt sind, wenn sie nicht das Produkt einer spekulativ auf eine breite Publikumszustimmung ausgerichteten Haltung von Regie und Produktion sind. Zwei fürs Forum ausgewählte französische Filme gehören dazu: Les yeux clairs, nach "Le chignon d'Olga" der zweite Spielfilm von Jérôme Bonnell: Fanny lebt zusammen mit ihrem Bruder und dessen Frau, mit der sich Fanny öfters streitet. Sie, das schwarze Schaf der Familie, ist psychisch krank und braucht kein Mitleid, sondern Liebe. Nach einem Streit mit der Schwägerin bricht sie nach Deutschland auf, wo sie das Grab ihres Vater und dessen Geliebten aufsuchen will. Unterwegs lernt sie Oskar kennen, einen kauzigen Einsiedler. Auf der Ebene der Sprache können sie einander nicht verstehen, da er kein Französisch und sie kein Deutsch sprechen. "Les yeux clairs" ist ein Märchen, unspektakulär, ohne Zauberer oder Hexe, dafür mit viel Hinwendung des Filmautors für die kleinen Äusserlichkeiten einer Annäherung: "Ich wollte nur Körper, Blicke und Gesten zeigen, nur Lachen hören und Stimmen, die nicht sprechen" (Jérôme Bonnell). Ausgeprägt mit Distanz und Nähe jongliert Lucile Chaufour in ihrem Spielfilmerstling Violent Days. Am Wochenende brechen die Angehörigen einer Clique von Paris nach Le Havre auf, um an einem Rockkonzert teilzuhaben, an dem sich die französischen Rockabilly-Fans treffen. Absichtlich hat Lucile Chaufour der Filmhandlung die zeitliche Zuordnung entzogen, was irritiert und zugleich die Aufmerksamkeit schärft für das, was der Filmautorin wesentlich ist: Die Fluchtbewegung aus dem Arbeitermilieu, die in Bier und Schlägereien endet. In den meist von harten Kontrasten gezeichneten Schwarzweissbildern verbindet sich die emotionale Nähe zur Lebenslust, die sich in der Rockmusik bündelt, mit der Distanz der Filmautorin gegenüber den sehnsüchtig Verlorenen. Als Komödie der Irrungen bezeichnet Ognjen Sviličič seinen Spielfilm Oprosti za Kung Fu (Sorry for Kung Fu) aus Kroatien. Mirijana kehrt aus Deutschland in ihre Heimat Kroatien zurück. Ihre Eltern, bei denen sie vorübergehend lebt, aber auch Nachbarn und kleine Geschäftemacher lassen nichts ungenutzt, für Mirjana jetzt nach dem Krieg einen guten, d.h. die traditionellen Werte hochhaltenden Ehemann zu finden. Was lange Zeit niemand weiss: Mirjana ist schwanger. Doch es kommt noch schlimmer: Sie bringt einen Jungen mit unübersehbar asiatischen Gesichtszügen zur Welt. "Sorry for Kung Fu" besticht durch die leichtfüssige Inszenierung und den Reichtum, mit dem die alltäglich grotesken Details einer fremdenfeindlichen, aber sonst ganz liebenswürdigen Familie geschildert werden, die sich durch den Krieg in ihrer Haltung bestärkt fühlt. Viel zu schmunzeln gibt es auch in Alexandra Sells erstem Kinodokumentarfilm Durchfahrtsland über die kleinbürgerlichen Freuden und Zankereien in den Gemeinden des so genanten Vorgebirges bei Bonn, das allerdings und auch im übertragenen Sinn bloss aus ein paar Hügeln besteht. Sell ist es gelungen, die Würde der Porträtierten zu wahren, und gleichzeitig lässt sie uns mitunter herzhaft darüber lachen, dass unser Leben mit ähnlich Biederem gespickt ist. Robert Richter
Preise an Filme im Forum des jungen Films Caligari-Filmpreis (Bundesverband kommunale Filmarbeit): NIU PI "Oxhide" von Liu Jiayin FICC-Jury (Fédération Internationale des Ciné-Clubs) Don Quijote-Preis: DER IRRATIONALE REST von Thorsten Trimpop Thorsten Trimpop berichtet von tiefen und tragischen Verletzungen, indem er die Vergangenheit mit der Gegenwart verbindet. Er erzählt die Geschichte dreier Menschen nicht nur in ihren eigenen Worten, sondern auch mit Hilfe seiner filmischen Techniken. Er gibt der Stille Raum. Wenn die Kamera auf Details oder den Gesichtern der Freunde verharrt, wird dem Gesprochenen zusätzliche Bedeutung verliehen. Lobende Erwähnung KEKEXILI "Kekexili: Mountain Patrol" von Lu Chuan Lu Chuan gelingt es, eine wahre Begebenheit mit Mitteln der Fiktion darzustellen. Mit diesem Film erreicht uns das Echo eines Kampfes für einen Lebensstil und der Verteidigung von Traditionen - ein Echo, das sich sonst in der Weite der Landschaft verlieren würde. Ökumenische Jury: RATZITI LIHIYOT GIBOR "On the Objection Front" von Shiri Tsur Der Film erzählt die persönlichen Entwicklungen von sechs israelischen Soldaten, die nach ihrer langjährigen Militärzeit ihren jährlichen Reservedienst in den besetzten Gebieten verweigern. Ihre Zeugnisse vermitteln, wie die Gründungsvision der jüdischen Tradition persönliches Umdenken und soziale Veränderungen in Gang setzen kann. Fipresci-Jury: NIU PI "Oxhide" von Liu Jiayin Im Geiste des Forums des Jungen Kinos reizt Niu Pi die Möglichkeiten der filmischen Ausdrucksmittel in innovativer und radikaler Weise aus. Während ein Film das wahre Leben mittels 24 Bildern pro Sekunde abbildet, zeigt Niu Pi das wahre Alltagsleben in China mittels 23 Einstellungen in 110 Minuten. CICAE-Jury: ODESSA ODESSA... von Michale Boganim Menschen und Orte scheinen fast fiktiv. Michale Boganim führt uns auf eine lange Reise mit Menschen, die auf dem Weg sind in ihre idealistische Welt, die es nicht mehr gibt - nirgendwo. Eine idealistische Welt, nach der wir uns alle sehnen. Diese Menschen kommen einem vertraut vor, weil wir auf die eine oder andere Weise alle selbst im Exil leben. Lobende Erwähnung: MAHIRU NO HOSHIZORA "Starlit High Noon" von Nakagawa Yosuke Lobende Erwähnung: STADT ALS BEUTE von Irene von Alberti, Miriam Dehne und Esther Gronenborn Wolfgang-Staudte-Preis: YAN MO "Before the Flood" von Yan Yu und Li Yifan Dieser 150-Minuten-Film gewann zusehends an Größe und packte die Jury mit seinem vielschichtigen Bericht über Menschen, die mit dem Verlust ihrer vertrauten Umgebung konfrontiert sind. Ein ferner Ort wurde dem Zuschauer nahe gebracht. Wir sehen die Fehler und Schwächen der Menschen, aber der Film erlaubt uns nicht, über sie zu urteilen. Im Gegenteil, wir gewinnen einen Einblick in die menschliche Natur. Ganz ohne Interviews und Kommentare vertrauen die Filmemacher allein auf ihr Material und zeigen so, dass sie auf die moralische Integrität der Zuschauer setzen. NETPAC-Preis: YEOJA, JEONG-HAE "This Charming Girl" von Lee Yoon-ki Für das subtile und präzise filmische Porträt einer jungen Frau, die in persönlichen Traumata und den Realitäten ihres Seins gefangen ist.
Alle Preise der Berlinale 2005 als PDF-Datei unter www.berlinale.de

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