Wer durch die Kiever Innenstadt bummelt, merkt kaum, dass er sich in der Hauptstadt eines der ärmsten Länder Europas befindet. Zum einen liegt dies an den vielen goldenen Zwiebeltürmen, welche an die bedeutende Vergangenheit der Stadt als Geburtsstädte der russischen Orthodoxie erinnern; zum andern an den noch zahlreicheren Luxusboutiquen, welche Westmode zu Westpreisen feilbieten. Der Kontrast zu anderen ukrainischen Städten könnte grösser kaum sein und man wird den Eindruck nicht los, dass in den letzten Jahren mehr Geld in die paar Häuserzeilen der Kiever Innenstadt investiert wurde als in den Rest des Landes.
Eine ähnlich herausragende Position nimmt das Molodist-Filmfestival in der ukrainischen Filmlandschaft ein. Denn auf Seiten der Filmproduktion ist kaum Geld vorhanden, um die durch den Zusammenbruch der Sowjetstrukturen entstandenen Lücken in der Infrastruktur zu schliessen; derweil die Kinos und der blühende Video-Schwarzmarkt von der üblichen amerikanischen Einheitskost beherrscht werden. Daneben gibt es im ganzen Land gerade noch sieben Filmklubs, welche im Moment nicht einmal über eine Dachorganisation verfügen. Es zeichnet sich jedoch ein Hoffnungsschimmer am Horizont ab. Der Kiever Uni-Filmklub hat vor ein paar Wochen seine vor über 10 Jahren eingestellten Aktivitäten wieder aufgenommen und zwar just mit der Premiere des, auch im Wettbewerb des Molodist vertretenen, ukrainischen Feature „Mamai“.
Dass das Molodist-Filmfestival in den turbulenten postsozialistischen Jahren fast lückenlos durchgeführt wurde und sich von einer sowjetischen Studentenfilmschau zu einem Festival mit internationaler Ausstrahlung und grosser lokaler Fangemeinde entwickelt hat, verdient daher um so grösseren Respekt. Neben viel engagierter Arbeit scheint das Geheimnis des Erfolgs in der Treue des Festivals zum jungen Film – Molodist heisst auf Ukrainisch Jugend – zu liegen.
Der Wettbewerb konzentriert sich auf junge Filmschaffende und umfasste dieses Jahr 34 Studenten-, 28 Kurz-, und 16 Featurefilme. Ergänzt wurde das Programm durch Filmreihen zum neusten russischen und ukrainischen Filmgeschehen und einem in Zusammenarbeit mit der Berlinale durchgeführten Talentcampus. Daneben standen diverse weitere Retrospektiven auf dem Programm, für welche einem als Jurymitglied neben dem tagesfüllenden Wettbewerbsprogramm leider kaum Zeit blieb.
Der interessanteste Teil des Wettbewerbs bildete zweifellos die Kategorie der Studentenfilme, oder genauer, die daran teilnehmenden Vertreter aus Osteuropa. Da scheint eine Generation junger Regisseurinnen und Regisseure mit grossem Potential heranzuwachsen. Das Problem vieler westlicher Studentenfilme, inhaltliche Belanglosigkeit durch formale Aufgeregtheit wettmachen zu müssen, scheint in Osteuropa kaum zu existieren. Wer sich hier für das meist brotlose Leben des Filmemachers entscheidet, hat in der Regel etwas zu erzählen.
Glücklicherweise widerlegte die Kiever Filmauswahl aber auch die sich in Westeuropa hartnäckig haltende Vorstellung des einzig aus politischem oder sozialem Leidensdruck handelnden Ostkünstlers. Ein Stereotyp, das sich unter anderem darin äussert, dass genau die beiden Wettbewerbsbeiträge, welche den Jugoslawienkrieg thematisierten, auf zahlreichen internationalen Festivals gezeigt und ausgezeichnet wurden. Verdient hätten eine solche Beachtung zweifellos auch andere osteuropäische Studentenfilme, die sich jedoch mit weniger spektakulären Themen auseinandersetzen. So etwa Cristian Nemescus “C”-Block Story“, eine kleine feine Geschichte über die Liebe und die Familie, welche ganz nebenbei äusserst aufschlussreiche Einblicke in das rumänische Alltagsleben gewährt. Oder der polnische Beitrag „Kontroler“, der – hervorragend gespielt – von den verzweifelten Rachegelüsten eines frustrierten Tramkontrolleurs erzählt.
Eine besondere Erwähnung verdienen auch die bezaubernden Animationsfilme aus Tschechien und Russland, welche in technischer Hinsicht ganz offensichtlich von der grossen Tradition des Genres in ihren Ländern profitieren können und – mal poetisch, mal ironisch – die Zuschauer in ihren Bann zu ziehen vermochten. Nicht zufällig ging auch der Don Quijote-Preis an einen solchen Kurzfilm: Elizaveta Skortsovas Film „Please, Wait“ erzählt die Geschichte vom Tod und dem Mädchen aus Kinderperspektive, ergreifend schön und bar jeder ‚Oh-wie-Herzigkeit’.
Entgegen den Erwartungen flaute der Wettbewerb nach dem Studentenprogramm etwas ab. Aus der Kurzfilmsektion bleibt einzig Ralim Salakhudinov‘s „On the Eve“ im Gedächtnis hängen. Die melancholischen Abgründe der Seele eines russischen Arztes, welche dieser Film auszuleuchten versucht, bleiben für den westlichen Zuschauer trotz eindrücklicher Bilder nur erahnbar. Das Kiever Publikum, welches sonst wenig Verständnis für schwere Kost zeigte, erlebte den Film aber offenbar anders. Es ehrte ihn mit dem Publikumspreis und verhalf damit dem nicht minder depressiv dreinschauenden Regisseur zu einer fetten Schweizer Luxusuhr.
In der Featuresektion des Wettbewerbs wurde die osteuropäische Dominanz etwas gebrochen. „L‘ Isola“ von Constanza Quatriglio aus Italien und „Struggle“ von Ruth Mader aus Österreich überzeugten bereits an anderen Festivals durch ihre einfühlsamen, quasi-dokumentarischen Alltagsbeobachtungen. Aber auch Julie Bertucellis Migrationsdrama „Since Otar Left“ und Siddig Barmak Afghanistanfilm „Ousama“ konnten zweifellos mit dem Gewinner des Hauptpreises des Festivals, dem unterhaltsamen aber nicht besonders tiefschürfenden russischen Dorfmärchen „Old Women“ von Gennadij Sidorov mithalten.
Auch wenn Weltpremieren im Programm kaum zu finden waren, so bewegte sich der Wettbewerb insgesamt doch auf einem guten Niveau, was das Festival offensichtlich zu einer beliebten Destination für Vertreter hochrangiger Festivals aus aller Welt macht. Nicht wenige von ihnen kommen jedes Jahr nach Kiev, nicht zuletzt wohl wegen der familiären Atmosphäre und der aufmerksamen Betreuung, in deren Genuss man auch als FICC-Jurymitglied kommt. Etwas gewöhnungsbedürftig vielleicht einzig das junge Kiever Publikum, welches im Kino ungeniert Walkman hört, telefoniert, Witze reisst oder rumspaziert – aber auch das gehört wohl zu einem Festival des jungen Films und schmälert den guten Gesamteindruck keineswegs.
Reto Bühler, filmstelle VSETH/VSU
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Festival Molodist