Verband Schweizer Filmklubs und nicht-gewinnorientierter Kinos
Association suisse des ciné-clubs et des cinémas à but non lucratif
Associazione svizzera dei circoli del cinema e dei cinema senza scopo di lucro
Swiss Association of Film Societies and Non Profit Cinemas

Osteuropäisches Filmschaffen20.11.2005

FICC-Jury am 15. Film Festival Cottbus – Festival des osteuropäischen Films 8. – 12. November 2005 Zu Gast beim 15. Cottbuser Filmfestival war für mich Neuland in zweierlei Hinsicht: Zum ersten Mal an einem ausschliesslich dem osteuropäischen Filmschaffen gewidmeten Festival dabei zu sein und das erste Mal in einer FICC-Jury, zusammen mit dem deutschen Kollegen Gunar Klapp und dem Norweger Carl Henrik Eilertsen, die zehn zum Teil ausserordentlich starken Festivalfilme zu begutachten. Ungarn und Istaván Szabó Standing Ovations gab es am Dienstagabend im Staatstheater bei der Festivaleröffnung. Dort wurde der seit fünf Jahren als Ehrenpräsident des Cottbuser Filmfestivals amtende, international bekannte ungarische Filmregisseur István Szabó für sein Gesamtwerk geehrt. Die Laudatio der ostdeutschen Filmemacherin und Dozentin an der Hochschule für Film und Fernesehen "Konrad Wolf", Babelsberg, Helke Misselwitz, kam fast einer Liebeserklärung an den Regisseur gleich, welche István Szabó in seiner Replik folgendermassen konterte: "Das Ende eines kreativen Lebens ist, wenn man sich zu ernst nimmt". Der Fokus des Festivals war dieses Jahr auf Ungarn gerichtet. Leider hatten die Jury-Mitglieder neben der Visionierung der Wettbewerbsfilme wenig Zeit, die grosse Anzahl von neuen und klassischen ungarischen Werken anzuschauen. Wettbewerb Das diesjährige Wettbewerbsprogramm setzte sich aus Filmen aus Ungarn, Slowenien, Bulgarien, Russland, Tschechien, Rumänien und Polen zusammen. Die FICC-Jury vergab den Don Quijote-Preis an "Pribehy obycejneho silenstvi" (Wrong Side Up) des tschechischen Regisseurs Petr Zelenka, der 1997 mit "Knoflíkáři" bereits den Förderpreis des Cottbuser Festivals erhalten hatte. Nach Zelenkas eigenem Bühnenstück „Geschichten vom gewöhnlichen Wahnsinn“ verfilmt, ist "Wrong Side Up" eine Tragikomödie über das Leben in der heutigen tschechischen Republik, mehr als ein Jahrzehnt nach der „Sanften Revolution“. Der Film beginnt fulminant mit Archivbildern vom Besuch Fidel Castros in der Tschechoslowakei im Jahre 1973. Hineingeschnitten in dieses Material ist der etwa fünfjährige Junge namens Petr, der anstatt dem revolutionären Politiker zuzuwinken, seine Finger zu einer Pistole formt und fiktiv den Commandante erschiesst. - Schnitt - wir befinden uns in Prag, 30 Jahre später, auf dem Flughafen, Symbol der Entfremdung, wo Petr als Frachtarbeiter bei DHL arbeitet. Petr und seine ganze Familie zeigen mit ihren zu nichts führenden Handlungen den ganz normalen Wahnsinn unserer Zeit. Petr trauert seiner verlorenen Liebe nach und versucht auf oft absurde Weise, sie zurück zu gewinnen; die Mutter ist eine besessene Wohltäterin; der Vater, einst Sprecher bei der sozialistischen Wochenschau, sucht neuen Antrieb in einer Liaison mit einer ebenso orientierungslosen jungen Künstlerin. Die scheinbar sicheren Strukturen der sozialistischen Welt, die alten Werte gibt es nicht mehr in der neuen Zeit, die Menschen wirken verloren, wie auf einem Ozean. Das Zerwürfnis zwischen verlorenen Werten und der Suche nach neuen Perspektiven reflektiert der Film von Zelenka eindrücklich. Eine lobende Erwähnung gab die FICC-Jury dem bulgarischen Film "Otkradnati Otschi" (Stolen Eyes) von Radoslav Spassov. Der Film handelt von der bis heute fast unbekannt gebliebenen ethnischen Säuberung, die in den achtziger Jahren von der Bulgarischen Kommunistischen Partei gegenüber der türkischen Minderheit begangen wurde. Im ersten bulgarischen Spielfilm, welcher sich mit diesem dunklen Kapitel beschäftigt, werden die politischen Ereignisse und emotionalen Konflikte jener Epoche in einer behutsam beobachteten Liebesgeschichte zwischen einer Türkin und einem bulgarischen Soldaten, dargestellt von zwei hervorragenden SchauspielerInnen, gespiegelt. Ein intensiver Film war sicher der Hauptpreisträger des diesjährigen Festivals, "Odgrobadogroba" (Von Grab zu Grab) des Slowenen Jan Cvitkovič. Das an die älteren Filme Kusturicas erinnernde Oeuvre, wurde von der FICC-Jury auf Platz zwei verwiesen, vor allem weil uns schien, dass die Frauen einmal mehr als zu passiv und handlungsunfähig dargestellt wurden. Obwohl die abgründig und logisch erzählte Geschichte beeindruckt, berührt es einen seltsam, wenn sich die stumme Vilma mit ihrem toten Geliebten lebendig begraben lässt. Ein poetisches Filmende - vielleicht - jedoch hinterliess es bei mir einen sonderbaren Geschmack. Publikumsliebling war der tschechische Film "Štĕsti" (Die fünfte Jahreszeit heisst Glück) von Bohdan Sláma. Ein zärtlicher Film über einfache Menschen, die dem harten Alltag doch auch immer noch etwas Glück abzugewinnen vermögen. Es bewegt einen sehr, wie nah und fein Sláma seine Menschen photographisch berührt. Eindrücklich auch das reife und differenzierte Spiel der HauptdarstellerInnen. Osteuropäisches Kino in der Schweiz Für mich war Cottbus eine Entdeckung. Die Gelegenheit, neustes Filmschaffen aus Osteuropa kennen zu lernen und osteuropäische Filmgeschichte nachzuholen, ist ein grosser Gewinn, besonders im Hinblick darauf, diese Kostbarkeiten auch bei uns im westlichen Europa einem interessierten Publikum besser bekannt machen zu können. Es ist mir persönlich ein wichtiges Anliegen, vermehrt auch osteuropäisches Kino in die Schweizer Filmclubs zu bringen. Einige der in Cottbus vorgestellten Filme sind bereits im deutschen Verleih zu finden. Slámas Film "Die fünfte Jahreszeit heisst Glück" wird sogar bei Xenix Filmverleih in Zürich verliehen. Erfreulich auch, dass der Film von Ruxandra Zenide "Ryna", eine rumänisch-schweizerische Koproduktion, soeben für den Schweizer Filmpreis nominiert worden ist. Mit Unterstützung von Cinélibre, hoffe ich, werden wir bald osteuropäische Filme auf die schweizerischen Filmclub-Leinwände bringen können. Lilo Spahr, Mitglied der FICC-Jury Cottbus 2005

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